6-2022 - Skizze für ein neues Mobilitätssystem
Dr. Heiko H. Stutzke
Juni 2022
Die Bundesregierung hat mit der Verkehrswende das Ziel ausgerufen, die bisher für unsere Mobilität genutzten Energieträger abzulösen und ein nachhaltiges, stärker miteinander vernetztes System zu schaffen. Gleichzeitig sollen bestehende Engpässe beim Fahren und beim Parken abgebaut und perspektivisch die Anzahl der privat genutzten Fahrzeuge deutlich verringert werden.
Wir wollen in diesem Beitrag versuchen, das Thema aus strategischer Sicht zu beleuchten und ein System zu skizzieren, das in naher Zukunft eine mögliche Lösung darstellen könnte.
Die zentrale Herausforderung
Unsere heutige Mobilität ist das Ergebnis verschiedener Faktoren:
Mobilitätsangebote müssen diese individuellen Bedürfnisse von Menschen und Unternehmen in geeigneter Weise abdecken. Hierzu zählen insbesondere zeitliche und örtliche Flexibilität. Geeignete Transportmittel müssen also kurzfristig und zuverlässig an den Orten und zu den Zeiten verfügbar sein, wo und wenn sie benötigt werden.
Damit ist klar, warum die individuelle Mobilität mit dem eigenen Fahrzeug heute einen so großen Stellenwert und damit ein so großes Volumen hat, und zwar sowohl im privaten und gewerblichen Personenverkehr als auch beim Gütertransport.
Nicht zu vergessen: Das eigene Auto gilt für viele – ganz unabhängig von der Nutzung – noch immer als Statussymbol. Auch deshalb dürften im Straßenbild aktuell so viele SUVs zu sehen sein.
Vision und Wirklichkeit
Die Vision der Mobilitätswende besteht auch darin, die Anzahl individueller Transportmittel zu reduzieren, um Verkehrsfluss und Parksituation zu verbessern. Es geht nicht darum, den Transport von Personen und Gütern zu beschränken, also die Anzahl der Fahrten zu verringern.
Damit entsteht ein grundlegendes Dilemma: Die Anzahl der Transporte bleibt also gleich oder nimmt sogar noch zu, während die Anzahl der Transportmittel und der Fahrten zurückgehen soll.
Wie kann das funktionieren?
Der aktuelle Stand
Die Verkehrs- und die Parksituation sind in vielen Bereichen angespannt. Mit 49,6 Mio. Pkw und 3,6 Mio. Lkw in Deutschland im Jahr 2022[1] ist der Bestand an Fahrzeugen auf einem Allzeithoch.
Der Öffentliche Nahverkehr wiederum besteht heute aus mehreren Säulen, die sich gegenseitig ergänzen, aber teilweise auch im gegenseitigen Wettbewerb stehen:
In einzelnen Städten gibt es noch Flottenanbieter wie „MOIA“, die auf der Grundlage einer App und mit Künstlicher Intelligenz Sammelfahrten ohne Fahrplan und zu individuellen Zielen anbieten. Auch Uber ist mancherorts ein grundsätzliches Thema.
Insbesondere außerhalb der Ballungsgebiete ist das Angebot des ÖPNV in vielen Bereichen unzureichend. Gleichzeitig sind die Preise sehr hoch.[2] Dies ist insgesamt ein zentraler Auslöser für die Entscheidung, ein eigenes Fahrzeug zu besitzen und gegenüber dem ÖPNV zu bevorzugen. Hinzu kommt, dass häufig ein weitaus höherer Zeitaufwand erforderlich ist, um eine Fahrt mit dem ÖPNV gegenüber dem eigenen Auto durchzuführen.
Die Situation ist also auf beiden Seiten suboptimal und optimierungsbedürftig: Die Vielzahl der Pkws und Lkws verstopft fahrend und als „Stehzeuge“ die Städte. Der ÖPNV ist unflexibel, oft schlecht ausgebaut und teuer.
Trotzdem ist der Ansatz nur zu verständlich, primär die aus dem Individualverkehr resultierende Verkehrs- und Parksituation zu entschärfen.
Viele Kommunen wählen hier den Weg über Verbote - nach dem Motto „Wir müssen es den Autofahrenden nur so schwer wie möglich machen, dann verzichten sie auf das eigene Auto.“ Mit dem Blick auf die oben genannte Vision für die zukünftige Mobilität und die Wirklichkeit wird jedoch klar, dass dies keine Lösung sein kann: Es ist lediglich eine sehr einseitige Sicht auf die Herausforderung ohne jeglichen strategischen Lösungsansatz. Letztlich wird das eigentliche Problem dadurch nicht kleiner, sondern sogar weiter vergrößert.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Automobilindustrie in Deutschland beträchtlich zum Arbeitsplatzangebot, zu Einkommen und Wohlstand beiträgt. Jedes neu in den Verkehr kommende Fahrzeug trägt über die Umsatzsteuer auf den Verkaufspreis, Steuern auf Kraftstoff und die Ausgaben für Versicherung und Wartung mit mehreren tausend Euro zum Steueraufkommen, dem Bruttoinlandsprodukt und der Finanzierung der Infrastruktur bei. Demgegenüber stehen der Ressourcenverbrauch, die negativen Auswirkungen auf das Klima sowie der Schaden durch enorme Mengen an Reifenabrieb, die als Mikroplastik in die Umwelt gelangen.
Skizze für eine neue Lösung
Es gilt, eine Lösung zu entwickeln, die Folgendes leistet:
Insgesamt muss dabei ein Niveau entstehen, bei dem die Notwendigkeit für ein eigenes Transportmittel nicht mehr gesehen wird.
Wie könnte ein solches System aussehen?
Die Ausgestaltung ergibt sich zum Teil bereits aus den genannten Mobilitätsanforderungen:
„Zeitliche und örtliche Flexibilität“ bedeutet, dass es sich nicht um ein schienengebundenes System handeln kann, sondern um ein System, das die bereits vorhandenen Straßen nutzt.
Aus wirtschaftlichen Gründen sollte es ein integriertes System für Personen- UND Gütertransport sein.
Mindestens 90 %, besser 95 % der Mobilitätsanforderungen sollten erfüllt werden.
Die Bedürfnisse von Personengruppen wie Senioren, eingeschränkten Menschen und anderen sind zu berücksichtigen, auch bei der „Bedienung“ des Systems.
Mit Blick auf die technologischen Entwicklungen im Bereich Mobilität wäre Folgendes denkbar:
Das heutige MOIA-System von Volkswagen zeigt in ersten Ansätzen, dass diese neue Form der individuellen Mobilität im Bereich des Personentransports sinnvoll umgesetzt werden kann und gut funktioniert. Sicherlich würden schnell auch passende Angebote für den Gütertransport entstehen.
Wie kann die Umsetzung aussehen, und was kostet sie?
Es ist klar, dass ein solches System ein Vielfaches der heutigen Anzahl an Fahrzeugen des ÖPNV erfordert. Daher muss davon ausgegangen werden, dass es erst vollständig realisiert werden kann, wenn fahrerlose Fahrzeuge tatsächlich zur Verfügung stehen. Bis das so weit ist, sind natürlich auch Lösungen mit Fahrpersonal denkbar, vielleicht zunächst regional begrenzt oder in kleinerem Umfang.
Für die Umsetzung können die heutigen ÖPNV-Verbünde eingesetzt werden, aber genauso können sich auch private Anbieter bilden. Wichtig ist, dass Fahrzeuge, IT etc. untereinander kompatibel sind. Insgesamt kann so ein Wettbewerb entstehen, der zu den besten (günstigsten) Lösungen führt.
Die individuell zu tragenden Preise für die Nutzung dieser neuen Form der individuellen Mobilität können sich an den heutigen Aufwendungen für den Erwerb und die Nutzung eigener Fahrzeuge für den Personen- und den Gütertransport orientieren.
Bei einem privat genutzten Fahrzeug bedeutet das Anschaffungskosten, Steuern und Versicherung, Wartung und Betriebskosten (Kraftstoff, Öl, …) und den Wertverlust. Das sind bei einem aktuellen Mittelklasse-Fahrzeug im Durchschnitt 500 – 600 EUR pro Monat. Es bedeutet jedoch nicht, dass die Nutzung des neuen Systems pro Kopf pauschal mit dieser Summe berechnet werden kann: Das entsprechende Fahrzeug wird vielfach nicht nur von einer Person genutzt, und der Transport der ganzen Familie ist eher der Regelfall als die Ausnahme. Der monatliche Pro-Kopf-Preis muss sich also an diesen Gegebenheiten orientieren. Dabei ist zu bedenken, dass bei einem flächendeckenden neuen Angebot wohl die meisten Einwohner Deutschlands teilnehmen würden, wenn Angebot, Service und Konditionen stimmen. Das würde bedeuten, dass vermutlich mehr als 65 Mio. Bürger das System regelmäßig privat nutzen würden. Bei einem Preissystem, das sich im privaten Bereich an den heutigen Aufwendungen für den ÖPNV orientiert, kämen so monatlich hohe Beträge zusammen. Gleichzeitig kann durch umfassende Standardisierung bei Fahrzeugen und Betrieb der Kostenaufwand geringgehalten werden.
Für die gewerbliche Nutzung und den Gütertransport wäre eine analoge Vorgehensweise zur Preisfindung ein denkbarer Weg.
Die Automobilindustrie würde einen grundlegenden Wandel erfahren und sich komplett neu ausrichten. Die Anzahl der Fahrzeuge würde zwar zurückgehen; gleichzeitig wäre aber zum Beispiel denkbar, dass Wartungsleistungen und andere Services künftig direkt von den Herstellern erbracht werden. Der voraussichtlich geringere Personalbedarf würde sicherlich auch zum Teil ausgeglichen durch den demografischen Wandel.
Durch die zurückgehende Anzahl der am Verkehr teilnehmenden Fahrzeuge würde es die heutige Parksituation in Wohn- und Geschäftsstraßen nicht mehr geben. Die Aufhebung der Trennung von Straße und Gehweg in Wohnquartieren und die Einrichtung von „Shared Spaces“ wäre die folgerichtige Konsequenz, die zu deutlich mehr Aufenthaltsqualität führen würde.
Wir können hier nicht alle entstehenden Möglichkeiten, Kosten und weitere Faktoren erschöpfend diskutieren. Klar ist aber, dass durch den Einstieg in ein solches Angebot ganz sicher weitere, interessante Lösungen und Synergieeffekte entstehen werden, die unsere heutige Mobilität nachhaltig zukunftsfähig machen.
Würde Deutschland diesen Wechsel zügig einleiten und dabei eine führende Rolle einnehmen, könnten wir auch international punkten und unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken.
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[1] Quelle: Statista.
[2] In Bremen kostet eine ca. 10 km lange Fahrt Fahrt mit zwei Personen ins Stadtzentrum und zurück fast 12 Euro.
Redaktionelle Hinweise
Über den Autor
Dr. Heiko H. Stutzke ist Geschäftsführender Gesellschafter des Strategiebüro Nord.
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