4-2021 - Kleidungskauf neu gedacht
Dr. Heiko H. Stutzke und Wiebke Brüssel
April 2021
Es ist vollbracht: Die Klappe des gelben Fachs an der DHL-Packstation schließt mit einem metallischen Geräusch, und die Retoure mit den erst gestern eingetroffenen Hosen ist eingeliefert.
So passiert es jeden Tag tausendfach und überall. Kleidungsstücke werden online bestellt, geliefert, anprobiert – und zurückgesandt, weil sie nicht passen. Das kennen wir inzwischen alle, und nicht wenige unter uns bestellen daher nicht nur die eigene Konfektionsgröße, sondern vorsichtshalber auch gleich noch jeweils eine Größe kleiner und größer. Damit liegt die Wahrscheinlichkeit einer Rücksendung aus der getätigten Bestellung bei 100 Prozent. Natürlich haben die Anbieter dieses Verhalten längst eingepreist. Nur wenige kümmern sich jedoch aktiv darum, die Klimawirkungen dieser eigentlich unnötigen Aktionen zu kompensieren. Riesige Mengen an Kleidungsstücken werden über weite Strecken transportiert, aber nie getragen, und landen im schlimmsten Fall direkt im Müll.
Der menschliche Körper ist eben nur ansatzweise in Konfektionsgrößen abzubilden. Schultern sind zu breit oder zu schmal, wo die Länge genau richtig ist; die Hose passt am Bund hervorragend, aber in der Länge fehlen drei Zentimeter. Hinzu kommt, dass manches Kleidungsstück „größer ausfällt“ - oder kleiner als die angegebene Größe.
Das läuft jetzt schon seit vielen Jahren auf diese Weise. Wir kennen es nicht anders und haben uns mit diesem System arrangiert. Fast immer sind Kompromisse gefragt.
Eine Frage stellt dabei offenbar niemand: Warum geben wir uns ausgerechnet bei unserer Kleidung mit Kompromissen zufrieden? Ist es nicht an der Zeit, einen neuen Weg zu gehen?
Wir haben einen solchen Weg entworfen. Und so sieht er aus.
Das Maß der Dinge
Die Zeit mit Homeoffice und Lockdown wird nicht in Monaten gemessen – sondern in Kilogramm. Wenn die Kleidung dann allzu körpernah sitzt oder es sogar zwackt und kneift, passiert in unserer Idealvorstellung beim Neukauf Folgendes:
Schritt 1
Die App für die Ermittlung der Körpermaße ist in der neuesten Version auf dem Mobiltelefon installiert. Pflichtschuldig warnt sie beim Start, dass die letzte Messung schon einige Monate zurückliegt. Also starten wir die „Scan“-Funktion und stellen das Telefon und uns selbst den Anweisungen entsprechend auf, damit die Kamera den eigenen Körper sieht und aufnehmen kann.
Der Autofokus wird von der Software ausgelesen und die Entfernung automatisch berechnet. Die erste Aufnahme wird gemacht, und wir werden von der App aufgefordert, die Position zu wechseln. So können auch die weiteren Ansichten („linke Seite“, „rechte Seite“ und „hinten“) aufgezeichnet werden. Alles wird verschlüsselt im eigenen App-Konto gespeichert.
Im Anschluss ermittelt die App automatisch die Körpermaße in „Schneidergenauigkeit“ und für all die Positionen und Längen, die auch der Schneider messen würde. Sie werden in einem Datensatz gespeichert, der einem ISO-genormten Standardformat entspricht, das zwischen verschiedenen Apps und Produktionsanlagen ausgetauscht werden kann.
Der erste Schritt ist damit erfolgreich abgeschlossen.
Tatsächlich gibt es inzwischen diverse Apps, die das Vermessen des menschlichen Körpers übernehmen. Eine anerkannte (ISO-)Norm für die Speicherung der so entstehenden Daten gibt es aber unseres Wissens noch nicht.
Schritt 2
Die neue Hose soll „bürotauglich“ sein; daher kommt es darauf an, den richtigen Stoff für das Klima in der Firma zu wählen. Glücklicherweise gibt es den „Perfect Fit“-Onlineshop (unser fiktiver Name), der eine große Auswahl von Stoffen anbietet. Diese sind so gut dargestellt und ausführlich beschrieben, dass wir genau den Stoff finden, der perfekt unseren Vorstellungen entspricht. Weitere Einzelheiten wie Taschen, Futter und andere Designelemente werden von der Software des Shops gut verständlich erklärt, die Wünsche abgefragt und erfasst.
Weil es gerade passt – und die Software einen entsprechenden Vorschlag macht –, fügen wir noch den Stoff und die Ausführung eines Sakkos im Casual Style hinzu.
Jetzt fehlt nur noch, den in Schritt 1 zusammengestellten Datensatz an den Shop zu übertragen und die Bestellung zu autorisieren. Der Auftrag ist erteilt.
Natürlich könnte auch die „Perfect Fit“-Filiale in der Innenstadt die Schritte 1 und 2 übernehmen. Hier kommt zur großen Auswahl noch die persönliche Beratung, mit der vielleicht eine noch bessere Kombination von Stoffen und Schnitten gefunden wird.
Schritt 3
Der „Perfect Fit“-Onlineshop übermittelt den Auftrag an die Produktion. Dort werden die beiden Kleidungsstücke in einem optimierten und weitgehend automatisierten Produktionsprozess hergestellt – genau nach den übermittelten Maßen.
Das dauert gar nicht lange. Mit einer E-Mail, SMS oder WhatsApp-Nachricht erhalten wir die Information, dass die beiden Kleidungsstücke fertig sind. Wir könnten sie im Shop abholen, entscheiden uns aber dafür, sie nach Hause liefern zu lassen.
Jedes Kleidungsstück erhält einen eingenähten QR-Code, über den die Stoffqualität (verarbeitete Materialien) sowie die verwendeten Maße abgerufen werden können – natürlich anonym, also ohne Möglichkeit, den Besteller zu identifizieren. Davon profitiert später auch das Recycling, da genau festgestellt werden kann, wie das Kleidungsstück zusammengesetzt ist.
Schritt 4
Die Anprobe zeigt: Alles passt perfekt, und die ausgesuchten Materialien passen hervorragend zusammen. Wir haben zwei neue Lieblingsstücke, die ein langes Leben vor sich haben.
Auch der Preis für die beiden Kleidungsstücke kann sich sehen lassen. Durch die optimierte Produktion kann er nahezu mit „herkömmlich“ produzierter Kleidung mithalten, und wir haben keinen Aufwand für eine Retoure.
Und die Textilindustrie?
Der oben beschrieben Ablauf ist zugegebenermaßen eine idealisierte Vorstellung – obwohl es die technischen Lösungen bereits gibt. Sie werden lediglich nicht in großem Umfang genutzt Er könnte also im Prinzip genauso stattfinden. Da „personalisierte“ Kleidung entsteht, gibt es natürlich das eine oder andere „Rechtliche“ zu regeln, aber das sollte kein Problem sein.
Für die Umwelt wäre dieser neue Weg auf jeden Fall ein Gewinn: Ein großer Teil der bisher produzierten Kleidungsstücke würde nicht mehr entstehen, die entsprechende Rohstoffgewinnung, Transporte etc. würden entfallen.
Andererseits müsste sich die Textilindustrie strategisch darauf einstellen und sich vermutlich neu erfinden, da die bisherige, internationale Arbeitsteilung nicht mehr existierte und die bisherigen Stückzahlen nicht mehr nachgefragt würden. Doch auch dies ist keine neue Erkenntnis. Dass es nicht auf Dauer weitergehen kann wie bisher, ist sicherlich den meisten klar. Viele Arbeitsplätze in der Textilindustrie sind heute mit unfairen Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung verbunden, die uns Niedrigstpreise verschaffen – und die Wegwerfmentalität.
Second-Hand-Kleidung würde eine ganz neue Dimension bekommen: Über den QR-Code können alle Angaben zum Kleidungsstück abgerufen werden. Die Online-Portale können daraus die bisherigen Konfektionsgrößen errechnen oder – wenn eine Interessentin bzw. ein Interessent den eigenen Datensatz im Kundenprofil gespeichert hat - die optimalen Kleidungsstücke als „Perfect Match“ direkt durch Abgleichen der Daten ermitteln.
Redaktionelle Hinweise
Über die Autoren
Dr. Heiko H. Stutzke und Wiebke Brüssel sind Geschäftsführende Gesellschafter des Strategiebüro Nord.
Das Strategiebüro Nord arbeitet für Unternehmen und Organisationen im privaten, sozialen und öffentlichen Bereich, für Gründer und für Firmen am Anfang ihrer Entwicklung.
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