2-2021 - Ein Nachhaltigkeitslabel für alle Produkte
Dr. Heiko H. Stutzke und Wiebke Brüssel
März 2021
28.09.2023 - Update zum folgenden Beitrag
Im Jahr 2021 haben wir uns Gedanken über ein Produktsiegel gemacht: Uns interessiert bei unseren Einkäufen aller Art, woher die Rohstoffe kommen, unter welchen Bedingungen Rohstoffe und Produkt entstanden sind, auf welche Weise Transporte abliefen, wie ökologisch und gesund das Produkt ist und ob es repariert bzw. umweltfreundlich entsorgt werden kann. Also die ganze Lieferkette auf einen Blick, direkt auf der Verpackung. Unsere Idee hatten wir an die EU gesandt und in zwei Videokonferenzen mit Ansprechpartnerinnen und -partnern diskutiert. Zusätzlich hatten wir das Konzept mit mehreren Politiker*Innen und Wirtschaftsakteur*Innen geteilt. Und jetzt tut sich etwas – siehe den Zeitungsausschnitt am Ende unseres Beitrags. Wir freuen uns.
27 – 30 – 55 – 17. Das ist die kürzeste Zusammenfassung der Nachhaltigkeitsbestrebungen der Europäischen Union im Jahr 2021: Die 27 EU-Staaten wollen bis 2030 die CO2-Emissionen um 55 % senken und die 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine bessere Welt erfolgreich umsetzen.
Große Teile dieser besseren Welt können im täglichen Wirtschaftsleben entstehen. Gerade in den Industrienationen gibt es immer mehr Unternehmen und Menschen, die gern nachhaltig einkaufen würden. Dafür fehlen ihnen jedoch einheitliche und zuverlässige Informationen, um zu erkennen, wie nachhaltig ein Produkt wirklich ist.
Es gibt zwar eine nahezu unübersichtliche Vielzahl von Produktlabels, die Nachhaltigkeit versprechen. Einige sind staatlich geprüft, andere Marketing-orientiert. Dabei konzentrieren sich die meisten jedoch auf bestimmte Aspekte und lassen andere unbeachtet. Nur wenige sagen beispielweise etwas über die Arbeitsbedingungen aus.
Bei Lebensmitteln scheint „Bio“ die beste Wahl zu sein, doch was, wenn das Bio-Produkt um die halbe Welt gereist ist und trotzdem immer noch preiswerter ist als ein Wettbewerbsprodukt, das regional hergestellt wurde? Was, wenn der Toaster oder der Laptop zwar zu fairen Lohnbedingungen gebaut wurden, aber nicht aufgeschraubt und repariert werden können? Was, wenn der Firmenoverall oder das T-Shirt nach einer Wäsche die Farbe verloren hat und auf den Müll wandert?
Wer möchte, dass möglichst viele nachhaltige Konsumentscheidungen getroffen werden, muss die Investoren und Konsumierenden mit einer passenden, einfach zu verstehenden Information versorgen. Das ist auch ein Gebot der Fairness.
Es ist längst fällig, dass Menschen und Unternehmen auf dem ganzen Globus für eine nachhaltige Produktion von Rohstoffen und Endprodukten belohnt und dass sie sichtbar werden. Nur so entsteht ein Anreiz für andere, es ihnen gleich zu tun.
Es fehlt also ein entscheidendes Bindeglied, um nachhaltige Produkte niedrigschwellig erkennbar zu machen – nicht nur in Bezug auf „Bio“ oder „Fair“, sondern auch in Bezug auf Rohstoffgewinnung, Transport und Nutzung sowie Reparatur- und Recyclingfähigkeit.
Bisherige Maßnahmen – zum Beispiel die Abschaltung fossiler Kraftwerke, eine CO2-Steuer und die Förderung regionaler, nachhaltig angebauter Produkte – reichen dafür nicht aus. Investoren und Konsumenten müssen viel stärker als bisher eingebunden werden, um weitere Fortschritte zu erreichen. Das funktioniert nur, wenn die Auswirkungen des eigenen Handelns auf Nachhaltigkeit, SDG-Ziele und Klimaschutz durch verlässliche Informationen direkt erkennbar werden und daher eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage für den Erwerb eines Produktes liefern.
Wir schlagen daher vor, künftig jedes Produkt mit einem „Nachhaltigkeitslabel“ zu versehen, das einfach aufgebaut ist und sich an bereits bekannten Mustern orientiert. Jedes Produkt muss eindeutige Informationen liefern, wie seine Existenz sich auf Nachhaltigkeit, SDG-Kriterien und Klimaschutz auswirkt.
Das gelingt, wenn jedes Produkt in den folgenden fünf Kategorien beurteilt wird:
1. Rohstoffe
Gewinnung, Anbau, Zucht, Energie, Arbeits- und soziale Bedingungen, Bezahlung, Umweltverbrauch, Wiederherstellmöglichkeit des ursprünglichen Zustands, ….
2. Produktion
Energie, Arbeits- und soziale Bedingungen, Tierhaltung und Tierwohl, Bezahlung, Umweltverbrauch, Einsatz giftiger Substanzen, Reparaturfähigkeit, ….
3. Transport und Handel
Verkehrsmittel, Entfernung und Energie, Tierwohl, Bezahlung, Verpackung, ...
4. Einsatz
Nutzung, Konsum, Energieverbrauch, Haltbarkeit, …
5. Entsorgung
Rückführung in den Stoffkreislauf, nötiger Aufwand und Energiebedarf, Recyclingmöglichkeit von Produkt und Verpackung, …
Diese bilden die einzelnen Stationen der Produktions-, Liefer- und Verwertungskette ab und enthalten alle Kriterien, die für die Beurteilung von Nachhaltigkeit, Umsetzung der SDGs und Klimaschutz erforderlich sind.
Damit können die folgenden Wirkungen erzielt werden (Nutzen):
1. Investoren und Konsumenten werden bei jeder Entscheidung für die Beschaffung eines Produktes leicht verständlich über die Auswirkungen auf Nachhaltigkeit, SDG-Ziele und Klimaschutz informiert.
2. Das Erreichen von Nachhaltigkeits-, SDG- und Klimazielen wird gefördert. Es werden auch Konsumenten angesprochen und einbezogen, die sich bisher nicht aktiv mit Nachhaltigkeit beschäftigt haben. „Greenwashing“ wird unterbunden, denn negative Aspekte können nicht verdeckt werden.
3. Unternehmen erhalten über das Produktlabel direkte Anreize, Produktportfolien zugunsten von mehr Nachhaltigkeit, Unterstützung der SDGs und Klimaschutz zu verändern. Dabei spielt der Wettbewerb eine große Rolle: Wer seine Produkte nicht anpasst, verliert unter Umständen Kunden an nachhaltigere Wettbewerber. Ein positives Label wird zum Vorteil.
4. Der Staat hat die Möglichkeit, analog heutiger Abgaben (EEG, CO2, …) über die Beurteilungen Instrumente zu nutzen, um zum Beispiel Produkte proportional zu verteuern, die Mindestanforderungen an Nachhaltigkeit, SDG-Ziele und Klimaschutz nicht erfüllen. Letztlich ist es ein wirksamer Schritt, um die „Umweltkosten“ von Produkten direkt dem jeweiligen Produkt zuzurechnen. Land- und Rohstoffverbrauch, Klimawirkungen und der Umsetzungsgrad der SDGs werden unmittelbar erkennbar und können zum Beispiel in Form von Abgaben erhoben werden. Diese Kosten wiederum sind von den Produzenten direkt beeinflussbar.
Info zum aktuellen Stand in Europa
Den oben genannten Anforderungen kommt das EU-Ecolabel am nächsten. Es wurde 1992 durch die EU-Verordnung EWG 880/92 eingeführt und ist eine freiwillige Produktkennzeichnung für Produkte des täglichen Bedarfs. Der Schwerpunkt liegt auf Klima- und Umweltschutz. Weitere Kriterien wie zum Beispiel Arbeits- und soziale Bedingungen werden laut unabhängigen Analysen nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem sind die Freiwilligkeit und die Beurteilung auf der Basis von Angaben des jeweiligen Herstellers problematisch.
Der Aufbau des Labels
Der Aufbau des Labels ist simpel und ähnlich dem bekannten „Nutriscore“. Die Beurteilung erfolgt in fünf Abstufungen von A (bester) bis E (schlechtester). Jedem Wert ist eine Farbe zugeordnet (Abstufungen von A - grün bis E - rot). Ein Gesamtwert ist möglich, aber nicht zwingend notwendig. In diesem Fall könnte der schlechteste Einzelwert oder eine erreichte Punktzahl den Gesamtwert bestimmen. Ein Produkt könnte das Nachhaltigkeitslabel erhalten, wenn die Beurteilung bestimmte Mindestwerte erreicht.
Die Variante „Sustainable Product - Made in Europe“ könnte zu einer weltweit anerkannten Marke werden.
Voraussetzungen
Ein Nachhaltigkeitslabel für alle Produkte ist geeignet, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU einen Paradigmenwechsel einzuleiten, der das Erreichen der von der EU gesetzten Ziele für Nachhaltigkeit, Umsetzung der SDGs und Klimaschutz unmittelbar fördert und erleichtert.
Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Beurteilungen und Einstufungen eines Produktes komplett lobbyfrei, unabhängig und transparent auf der Basis nachvollziehbarer Daten und Kriterien erfolgen, ebenso die regelmäßige Aktualisierung. Dabei sind die legitimen Geschäftsinteressen von Unternehmen (zum Beispiel Geschäftsgeheimnisse, geschützte Produktionsprozesse oder Materialien) zu berücksichtigen.
Die unabdingbare Basis ist der politische Wille. Neben gesetzgeberischen Maßnahmen ist der Aufbau administrativer Strukturen für die Prüfung und Zulassung von Produkten für den Markt erforderlich.
Das Nachhaltigkeitslabel würde dann alle Wirtschaftsbereiche gleichermaßen und diskriminierungsfrei betreffen und auch auf diese Weise die Akzeptanz fördern. Hierzu können auch Informationsveranstaltungen, Spots in den (Sozialen) Medien oder Flyer beitragen.
Natürlich entstehen auch Kosten für die Einführung eines Nachhaltigkeitslabels. Diese umfassen zum einen die Einmalkosten für den Aufbau der erforderlichen Strukturen, zum anderen laufende Kosten für den Betrieb. Bei den Produktherstellern sind es Kosten für den gesamten Erhebungsprozess (Zeit, Personal- und Sachaufwand) sowie die Erhebung von Daten für die Produktbeurteilung. Dabei können jedoch Daten aus anderen Genehmigungs-, Zertifizierungs- und Vertriebsprozessen (zum Beispiel zur Umsetzung des Lieferkettengesetzes) kompensierend wirken.
Kosten und Aufwände für die Beurteilung von Produkten können allerdings eine bedeutende Markteintrittshürde für Produzenten sein, insbesondere in Ländern des globalen Südens. Der Aufbau des Systems sollte daher durch die Industrienationen erfolgen, und es müssen Maßnahmen entwickelt werden, damit auch Produzenten und Lieferanten in ärmeren Ländern es niedrigschwellig einsetzen können. So wird gleichzeitig auch im Sinne der SDGs etwas für eine gerechtere Welt getan.
Umsetzung
In der Umsetzung kann das so aussehen:
1. Jedes Produkt durchläuft verpflichtend eine Beurteilung in den oben genannten Kategorien, bevor es auf dem jeweiligen Markt eingesetzt werden darf. Es wird nicht unterschieden zwischen Produkten aus EU- und Nicht-EU-Produktion.
2. Jede der Kategorien „Rohstoffe“, „Produktion“, „Transport und Handel“, „Einsatz“ und „Entsorgung“ wird gesondert beurteilt und in ein Scoring-Modell eingearbeitet. Das Modell (zum Beispiel ein Punktesystem) sowie die Messmethoden sollten durch eine internationale Experten-Arbeitsgruppe entwickelt werden.
3. Die Einstufung in eine Kategorie bestimmt über den Einsatz und Umfang staatlicher Maßnahmen, die ggf. zu einer Verbilligung, Verteuerung oder (im Extremfall) dem Marktausschluss führen.
4. Der entsprechende Workflow für die Einstufung entspricht weitgehend dem Aufwand für die Beurteilung der jeweiligen Lieferkette und muss daher nicht neu entwickelt werden. Für eine maximale Punktzahl beim Score muss die gesamte Lieferkette so gut wie möglich dokumentiert werden; hinzu kommen Aussagen zu Transport und Handel, Nutzung und Entsorgung. Entstehende Lücken senken die Punktzahl.
5. Neue Technologien (Blockchain und KI) werden genutzt, um eine manipulationssichere Nachverfolgung der gesamten Lieferkette und der Endprodukte sicherzustellen. Fehlen Angaben, können KI-basierte Schätzungen eingebaut werden. Beispiel: Werden Rohstoffe aus einer Region verwendet, die für Kinderarbeit bekannt ist, und liefert der Hersteller keine Daten, kann die Wahrscheinlichkeit für Kinderarbeit ermittelt und das Produkt den entsprechenden (negativen) Scorewert für die Kategorie „Rohstoffe“ bekommen.
6. Bereits gebräuchliche Label (Bio-Zertifikate, Fair Trade etc.) bzw. die Ergebnisse der entsprechenden Prüfungen werden innerhalb der jeweiligen Kategorie genutzt und die entsprechenden Organisationen hinter den Labeln für die Lieferung der benötigten Informationen einbezogen. So wird Aufwand für zusätzliche Prüfungen gespart. Bei Nutzung einer weltweiten Datenplattform (Blockchain) können alle staatlich anerkannten Label-Ersteller angebunden werden und ihre Bewertung für Rohstoffe und Produkte abgeben, die dann in die Punktzahl der jeweiligen Kategorie eingeht.
Auch andere, bereits übliche Zulassungs- und Genehmigungsverfahren können genutzt werden. Gegebenenfalls müssen sie inhaltlich überprüft und in den Kontext des Nachhaltigkeitslabels gebracht werden. Hierzu gehören selbst Zollformalitäten, bei denen oft Produktbestandteile und deren Herkunft angegeben werden müssen.
Die gesamte Umsetzung muss als Großprojekt geplant und gesteuert werden. Wichtig ist dabei, eine Zeitschiene zu entwickeln, mit deren Hilfe Projektfortschritt und Zielerreichung gemessen werden.
Für die Einführung selbst steht eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung:
Anfänglich freiwillige Kennzeichnung der Produkte und Überprüfung, wie die Kennzeichnung auf dieser Grundlage umgesetzt wird (Vergleich zum Beispiel mit „Nutriscore“).
Best-Practice / Top Runner als Vorbild und Orientierung: Es wird ermittelt, welche Unternehmen im jeweiligen Segment die Vorreiter in Bezug auf Nachhaltigkeit sind. Die erreichten Werte werden als Orientierungsgröße genommen, und in einem festzulegenden Zeitraum müssen alle anderen dieselben Werte erreichen (zum Beispiel Klimaneutralität beim Transport o.ä.).
Keine Pflicht, sofort mitzumachen. So wird durch Verweigerer nicht der gesamte Prozess behindert. Teilnehmende erwerben aber einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Nicht-Teilnehmenden, da das Label erfolgreich als Verkaufsargument positioniert werden kann. Denkbar wäre eine Förderung aus einem „Nachhaltigkeitsbudget“.
Zunächst kein Einsatz von staatlichen Steuerungsinstrumenten.
Sektorale Einführung, zum Beispiel Start mit dem Energie- oder Lebensmittelsektor.
Einführung nach Produktgruppen.
Auch eine „Teileinführung“ wäre denkbar, bei der zunächst nur einzelne der fünf Beurteilungskriterien gültig werden.
Das Label soll für alle Consumer- und Business-Produkte gelten. Heute bereits gebräuchliche Label bzw. die Ergebnisse der damit verbundenen Prüfprozesse können als Basis für die einzelnen abgefragten Bereiche in die Gesamtbeurteilung eingehen.
Sinnvoll wäre auch eine wissenschaftliche Begleitung der Umsetzung, zum Beispiel durch Forschungsinstitute im Bereich Nachhaltigkeit.
Ein emotionales Fazit
Ein Nachhaltigkeitslabel für alle Produkte und insbesondere der einheitliche Prüfprozess hinter dem Label wäre ein innovatives Element, das die Rolle der EU in der Weltwirtschaft verändern kann. Es ist zudem ein Baustein für den Einstieg in eine echte Kreislaufwirtschaft. Das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele wird leichter, da alle Wirtschaftssubjekte bei jeder Produktentscheidung über die Auswirkungen informiert werden und ggf. Alternativen wahrnehmen können.
Wir Investoren und Konsumierenden verdienen es, auf einen Blick sehen zu können, ob ein Produkt der Welt nützt oder sie schädigt.
Wir wünschen uns Produkte, die nicht auf Kosten anderer Menschen und der Umwelt erzeugt werden. Wir möchten, dass Landwirte im globalen Süden, die nachhaltig produzieren und transportieren, einen sichtbaren Vorteil bekommen. Wir wünschen uns das Ende des Greenwashings und den Beginn einer echten „grünen“ Produktion. Was wir kaufen, soll lange halten und dann so weit wie möglich recyclingfähig sein.
Ein Nachhaltigkeitslabel zeigt uns das alles auf einen Blick. Das Label wäre damit ein Meilenstein auf dem Weg in eine klimaneutrale, nachhaltige und gerechte Welt und könnte ein echter USP[1] für teilnehmende Staaten werden.
Wir bieten hiermit unsere Unterstützung an, um das Nachhaltigkeitslabel Wirklichkeit werden zu lassen.
[1] USP = Unique Selling Proposition = Alleinstellungsmerkmal.
Weser-Kurier vom 28.09.2023. Zum Vergrößern bitte ziehen oder anklicken.
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