10-2018 - Gibt es Wege aus dem Dokumentations-Dilemma?
Dr. Heiko H. Stutzke
Juni 2018
Jeder kennt es, und wir nennen es „Protokoll-Mikado“: Wenn in Besprechungen die Frage gestellt wird, wer das Protokoll macht, schauen die meisten nach unten, müssen dringend etwas in ihren Unterlagen suchen oder melden sich aktiv mit der Ansage, dafür leider keine Zeit zu haben – „sonst gern!“
Diese Freiheiten gibt es außerhalb von Bürotätigkeiten in der Regel nicht. Die jederzeitige Nachvollziehbarkeit von Vorgängen und Entscheidungen ist in vielen Bereichen das zentrale Element für den reibungslosen Ablauf von Prozessen. Häufig ist der letzte Schritt der Aufgabenerledigung das „Abhaken“ in einer Liste oder das Erfassen in einer Datenbank. Die Dokumentation des Vorgangs dient damit auch
der persönlichen Kontrolle,
der Fehlererkennung und -vermeidung und
der Übernahme von Verantwortung für die ordnungsgemäße Erledigung.
Im schlimmsten Fall sterben Menschen, wenn die Dokumentation nicht stimmt und zum Beispiel beim Flugzeug ein Teil nicht oder nicht korrekt eingebaut wird. Das gilt auch für Krankenhaus, Pflege, unsere Infrastruktur (Brücken, Straßen, Leitungen) und vieles mehr.
Immer mehr Zeit für Dokumentation
Dabei entsteht aber ein Problem: Die Zeit für die Erfüllung von Dokumentationspflichten steht für die eigentliche Aufgabenerledigung nicht mehr zur Verfügung.
Was bedeutet das genau?
Es bedeutet, dass zum Beispiel der Landarzt in seiner Praxis einen beträchtlichen Anteil seiner Arbeitszeit mit Dokumentation verbringt. Während dieser Zeit können keine Patienten behandelt werden.
Es bedeutet genauso, dass der Polizist nicht im Außeneinsatz tätig ist, sondern einen großen Teil seiner Arbeitszeit am Schreibtisch mit der Erstellung von Ermittlungsprotokollen und anderen Aktivitäten verbringt.
Berufe und Aufgaben, die sowie schon von Nachwuchs- und/oder Fachkräftemangel betroffen sind, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Sie verdeutlichen aber sehr gut die Auswirkungen, die zusammen mit anderen Faktoren aus Anforderungen entstehen, immer mehr und immer genauer zu dokumentieren. Große Bereiche, in denen heute schon spürbare Engpässe bestehen, sind zum Beispiel
die ärztliche Versorgung abseits von Ballungsgebieten, wie oben bereits genannt,
häusliche Pflege und Pflegeberufe in Krankenhäusern und Heimen,
IT, Elektronik und Datenschutz oder
technische Entwicklung.
In der Summe kann daraus sogar ein gesamtwirtschaftliches Problem entstehen, das sich auf ganze Lieferketten und selbst das Wirtschaftswachstum auswirkt.
Wie könnten Lösungen aussehen?
Damit stellt sich die Frage, ob es nicht Möglichkeiten gibt (oder geben sollte), Dokumentationsanforderungen mindestens zum Teil mit technischen Mitteln und automatisch erledigen zu lassen, um so Kapazitäten wieder freizumachen für die eigentliche Tätigkeit.
Das könnte folgendermaßen funktionieren – erst einmal ganz unabhängig von Fragen des Datenschutzes etc.:
Ein mitgeführtes Modul erfasst den Ort, an dem wir uns befinden, und die aktuelle Situation, also zum Beispiel den Arzt am Bett eines Patienten, den Techniker bei der Wartung der Flugzeugturbine oder die Pflegekraft in der Wohnung einer Patientin.
Dass die Situation richtig erfasst wurde, kann durch verbale Eingabe (Spracherkennung) oder das Drücken eines Knopfes ohne großen Aufwand bestätigt werden, soweit es überhaupt erforderlich ist.
Die jeweilige Aktivität wird über Sensoren in der Kleidung oder andere geeignete Mittel erfasst und aufgezeichnet. Akustisch gegebene Anweisungen werden automatisch in Schriftsprache übersetzt.
Zum Abschluss kann über PC, Tablet oder Smartphone eine kurze Zusammenfassung durchgesehen, ergänzt oder geändert und dann bestätigt und freigegeben werden.
Mit technischen Lösungen könnten also – vorerst noch theoretisch – Vorgänge automatisch erfasst, bewertet und aufgezeichnet werden, die heute die entsprechende Person manuell und erst im Nachgang der jeweiligen Aktivität verarbeiten würde.
Heute gibt es bereits Assistenzsysteme, die zum Beispiel in einer „Hololens“-Brille von Microsoft zur Verfügung stehen und dem Spezialisten direkt am Einsatzort Informationen geben. Das kann der Einbauort eines Bauteils sein, die Lage eines Tumors in der Bauchhöhle des Patienten oder der Ablageort eines Packstücks im Hochregellager. Sie alle haben eines gemeinsam: Das technische System – also in diesem Fall die „Hololens“ – erkennt die Situation und blendet die jeweils erforderlichen Informationen ein. Eine sinnvolle Weiterentwicklung könnte darin bestehen, die Aktivitäten des Spezialisten zu erfassen, also beispielweise die Gabe eines Medikaments, den erfolgreichen Einbau eines Ersatzteils oder per Spracherkennung die Aufzeichnung weiterer Tätigkeiten.
Teilweise gibt es das heute schon, aber die Bandbreite möglicher Anwendungen muss deutlich ausgebaut und qualitativ so weit optimiert werden, dass der Einsatz für Dokumentationszwecke auch in kritischen Bereichen möglich wird.
Hier noch ein Beispiel aus dem Pflegebereich, wie eine solche Lösung aussehen kann:
Die Pflegekraft fährt zur Wohnung der Patientin. Der Ort ist mit den GPS-Koordinaten in der Patientenakte gespeichert und kann so leicht abgeglichen werden.
Die Ankunftszeit wird automatisch festgehalten.
Die Pflegekraft erfährt über eine entsprechende Anzeige, welche Behandlungen ausgeführt werden sollen und welche Besonderheiten vorliegen.
Alle Pflegeaktivitäten werden über Sensoren automatisch protokolliert.
Ende und Wegezeiten werden protokolliert.
Auf diese Weise könnte übrigens wahrscheinlich auch Pflegebetrug wirksam unterbunden werden.
Regelungen sind nötig
Natürlich entsteht so leicht der Eindruck der „Totalüberwachung“, und der Schutz der vielen entstehenden Daten ist ein großes Thema. Aber: Auch ohne automatisierte Erfassung ist die Situation fast genau dieselbe:
Die Ärztin erfasst penibel per Hand alle Einzelheiten der Operation oder der Medikamentengabe,
der Flugzeugtechniker, wann er welches Teil mit welcher Teilenummer in die Maschine eingebaut hat, und
die Pflegekraft hakt auf der Liste ab, welche Aufgaben sie bei welcher Patientin durchgeführt hat.
Das Ganze erfolgt heute lediglich mit Zeitversatz, und möglicherweise werden weniger Informationen erfasst. Der Unterschied besteht also nur darin, dass manuelle Erfassung durch automatische Verfahren - und in Echtzeit - ersetzt wird. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Zuverlässigkeit insgesamt sogar steigt.
Mit entsprechender technischer Unterstützung wird nicht nur wertvolle Zeit wieder verfügbar gemacht. Auch die Arbeitszufriedenheit kann steigen, indem die eigentliche Tätigkeit wieder stärker in den Vordergrund rückt und „lästige“ Dokumentationspflichten reduziert bzw. im Hintergrund abgearbeitet werden. Die entstehenden Effizienzsteigerungen können aktiv dazu beitragen, Fachkräfte- und Ärztemangel zu begegnen und Berufe attraktiver zu machen.
Es gibt noch viel zu tun, damit das klappt
Es ist klar, dass für diese Vision noch eine Menge Entwicklungsarbeit zu leisten ist. Die Systeme, die grundsätzlich für die genannten Aufgaben nutzbar wären, erscheinen aber schon am Horizont.
Noch vor ein paar Jahren erschien es zum Beispiel undenkbar, dass Sprachassistenten die Kommunikation mit einem Anrufer übernehmen und so reagieren, dass der Anrufer nicht erkennt, dass er es mit einem technischen System zu tun hat.
Es gilt, rechtzeitig sinnvolle Regeln aufzustellen, damit die Nutzung möglich wird und ohne Beeinträchtigung persönlicher Rechte oder Datenschutz umgesetzt werden kann.
So würde sich dann aber vielleicht auch das leidige Thema „Protokoll“ im Bürobetrieb irgendwann erledigen.
Redaktionelle Hinweise
Über den Autor
Dr. Heiko H. Stutzke ist Geschäftsführender Gesellschafter des Strategiebüro Nord.
Das Strategiebüro Nord arbeitet für Unternehmen und Organisationen im privaten, sozialen und öffentlichen Bereich, für Gründer und für Firmen am Anfang ihrer Entwicklung.
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